Philosophieren heißt sterben lernen

Ein Mann erleidet die Todesstrafe. An seinem letzten Tag besuchen ihn seine besten Freunde im Gefängnis, um Abschied zu nehmen. Seine Frau und seinen Sohn hat er weggeschickt, da deren Klagen stören. Die Stimmung ist seltsam. Der zum Tode Verurteilte ist glückselig, er ist in froher Erwartung des Lebens im Jenseits.

So sind die Freunde in einer Mischung aus Betrübnis und Lust, manchmal lachend, bisweilen weinend, weil sie ihn verlieren. Den ganzen Tag sprechen sie über den Tod als Befreiung der Seele vom Leib, bis der verabreichte Gifttrunk die Zunge des Freundes bricht.

Die Schilderung dieser Szene verdanken wir Platon, der in seinem Dialog „Phaidon“ diesen denkwürdigen letzten Tag des Sokrates für die Nachwelt überliefert hat. Aus diesem Werk stammt auch folgendes Zitat: „In der Tat also (…) trachten die richtig Philosophierenden danach zu sterben, und tot zu sein ist ihnen unter allen Menschen am wenigsten furchtbar.“

Wieso konnte Sokrates dem Tod so gelassen und voller Zuversicht entgegentreten?
Er war, so wie sein Schüler Platon, von der Unsterblichkeit der Seele überzeugt und beschäftigte sich intensiv mit der pythagoräischen Idee der Seelenwanderung. Und er hatte sich Zeit seines Lebens der Philosophie gewidmet, deren Ziel eine bewusste und allmähliche Trennung der Seele vom Körper ist. Die Seele soll sich von allen Leidenschaften der körperlichen Sinne entledigen, um Befreiung und geistige Unabhängigkeit zu erlangen. Der Philosoph trachtet schon zu Lebzeiten danach, zu sterben. Das bedeutet, sich innerlich von den materiellen Dingen zu entfernen und sich auf den Tod vorzubereiten.


 

Durch die Beobachtung der Natur und der Gesetze der Existenz erkennt er, dass alles Geborene vergänglich ist und dass jedes Lebewesen sterben muss. Er erhebt sein Bewusstsein und betrachtet sein eigenes Leben aus der Perspektive der Universalität und Objektivität und wendet die erkannten Prinzipien auf sich selbst an.

Unsere heutige materialistisch geprägte Welt hingegen gibt dem physischen Dasein einen zu hohen Wert. Wir können uns ein Sein jenseits von Gefühlen, Gedanken und sinnlichen Erfahrungen nicht vorstellen. Wir haben den Zugang zur spirituellen Realität, den Dimensionen des geistigen Lebens verloren.

Zahlreiche Weisheitslehrer aller Epochen sprachen davon, dass das weltliche Leben ein Entwicklungsabschnitt auf dem Weg zur geistigen Reife ist. Buddha beispielsweise lehrt, dass die Menschheit sich vom Leiden befreien muss, um die Erleuchtung zu erlangen. In Zustand der Erleuchtung erkennen wir den Sinn aller Existenz und erleben vollkommene Glückseligkeit. Viele moderne Forscher wie Raymond Moody und Elisabeth Kübler-Ross konnten Beweise für ein Leben nach dem Tod in einer besonderen spirituellen Seinsform erbringen.

Verglichen mit den Farben, Klängen und Genüssen unserer sinnlichen Welt sollen die „paradiesischen“ und geistigen Dimensionen um ein Vielfaches intensiver, bunter, strahlender sein, von unendlicher Freude, Liebe und dem Empfinden der innigen Verbundenheit mit allen Lebewesen und geistigen Existenzen geprägt.

Diese glückseligen Gefilde sind jenen zugänglich, die sich über zahlreiche Existenzen und leidvolle Erfahrungen dafür vorbereitet haben. Sie haben sich gereinigt und sind nicht mehr abhängig von der sinnlich erfahrbaren Welt.

Ist dies nicht geschehen, so lehren zahlreiche Traditionen, erwarten uns nach dem Tod im „Kama Loka“ („Wunsch Ort“) all unsere Wünsche, unerlösten Gefühle und Aufgaben in einer Art „Hölle“ und wir müssen unser Begehren ausleben, ohne es jemals erfüllen zu können – anschaulich geschildert in den griechischen Überlieferungen vom Hades, den Tantalos- und Sisyphosqualen oder den Schilderungen des Tibetischen Totenbuches von den zornvollen Gottheiten. Diese Qualen währen nicht ewig, wir bekommen eine neue Gelegenheit zum Lernen …




Zurück zu Sokrates. Er konnte guten Mutes sein. Da er wusste, dass er nichts weiß, hat er sein ganzes Leben der Suche nach der Weisheit und dem Sinn gewidmet. Dabei war er sinnlichen Genüssen keineswegs abgeneigt, man wusste, dass er äußerst trinkfest war … Es geht nicht darum, das Leben nicht zu genießen und die körperlichen Bedürfnisse außer Acht zu lassen. Im Gegenteil: Das philosophische Leben führt zum bewussten Leben im Augenblick, voller Gelassenheit und Seelenruhe. Ohne Ängste und Grauen vor dem Tod. Ohne, dass die wichtigsten Lebensfragen verdrängt werden und drohend über uns schweben …
Ein Philosoph ist – wörtlich – ein Liebender oder Suchender der Weisheit. Er möchte wissen, was die Wirklichkeit tatsächlich ausmacht und gibt sich nicht mit dem oberflächlichen Sinnesgenuss zufrieden. Er arbeitet mit Nous, dem vernünftigen Seelenteil, der uns nicht sinnlich verfälschte Eindrücke liefert, sondern uns in Kontakt mit den ewigen, unveränderlichen und reinen Ideen bringt. Die Seele soll sich von den Sinnen zurückziehen und ganz für sich sein in Kontakt mit den Ideen des Wahren, Guten, Schönen und Gerechten.

Platon lehrt, dass die Seele (psyché) aus drei Teilen zusammengesetzt ist: dem begehrenden, muthaften und vernünftigen Seelenteil. Diese stehen miteinander in Widerstreit. Der Philosoph versucht sie unter der Leitung des vernunftvollen Seelenteils miteinander zu vereinen. Anschaulich schildert er im Dialog „Phaidros“ die Vernunft als Wagenlenker, die die beiden sehr verschiedenen Pferde, den Willen und die Begierde, lenken muss, um die Seele zur Erkenntnis zu führen.

Dieses Streben äußert sich in einer Lebensdisziplin, die den Philosophieschulen der Antike eigen war. Dadurch lebt der Philosoph die „arete“, die Tugendhaftigkeit, denn er beschäftigte sich nicht nur mit dem Streben nach Erkenntnis, sondern wendet Erkanntes im Alltag an. So verwirklicht er Schönheit und Gerechtigkeit, gleichzeitig lebt er Wahrhaftigkeit und Güte.

Der Philosoph nützt das Leben, die Proben des Alltags, um Tugenden auszubilden und sie immer stärker zu entwickeln. Denn nur eine durch die Tugenden gereinigte Seele kann die unvergänglichen und reinen Ideen wahrhaftig erblicken und eins mit ihnen sein.



Der Philosoph hat also zwei Aufgaben: die Seele vom Körper zu lösen, indem er die Vernunft aktiviert und die Seele durch das philosophische und tugendhafte Leben zu reinigen. Beide Male geht es um die Abkehr vom Sinnlichen und die Ausrichtung hin zur Wahrheit der Ideen.

Das „Sterben des Philosophen“ bedeutet, in sich selbst alles, was von der Schau der Ideen abhält, abzutöten und die Seele nach und nach dem Zustand der Seelengröße anzunähern, in dem sie alles aus der Perspektive der Allvernunft und Objektivität erkennen kann und sich freiwillig dem ewigen Kreislauf allen Seins unterwirft.

Sokrates, der schon das ganze Leben lang „gestorben“ ist, zeigt uns mit seinem gelassenen und ruhigen Tod, dass uns die Philosophie für die letzte große und rätselhafte Prüfung des Daseins vorbereitet.


Dieser Artikel wurde in der Ausgabe 134, Oktober 2013 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht, Autor: Gudrun Gutdeutsch