Verborgene Spiritualität

Vor vielen, vielen Jahren lebten die Menschen sehr nahe den Göttern, waren glücklich und lebten eine hohe Spiritualität mitsamt den Mächten, die diese verlieh. Aber die Menschen missbrauchten sie, und so beschloss Brahma, die spirituellen Mächte zu verbergen …

… Eines Tages rief er all seine niederen Gottheiten zu einer Ratsversammlung und fragte: „Wo können wir die Spiritualität der Menschen verbergen, dass sie sie nicht mehr finden?“ Einer der niederen Götter sagte: „Ich weiß wo: im Zentrum der Erde!“ – „Nein“, sagte Brahma, „die Menschen graben die Erde um und finden sie.“ Eine andere Gottheit schlug vor: „Auf dem Meeresgrund!“ – „Nein“, antwortete Brahma, „denn eines Tages werden die Menschen zum Grund des Meeres vordringen und sie finden.“ Die Götter überlegten hin und her. Einer sagte: „Auf der höchsten Spitze des höchsten Berges!“ – „Nein“, sagte Brahma, „den Menschen gefallen Herausforderungen, eines Tage werden sie auf die höchsten Berge klettern.“ Die Götter schwiegen. Schließlich ergriff Brahma wieder das Wort: „Ich weiß wo: Verbergen wir sie im tiefsten Inneren ihrer eigenen Seele, denn dort werden sie niemals suchen.“ Seit vielen Jahren sucht der Mensch sein Glück, seine Spiritualität überall, in der Erde, am Meeresgrund, in Bergeshöhen, ohne zu wissen, dass sich diese in ihm selbst befindet.



Was ist Spiritualität? Das Wort leitet sich ab von lat. Spiritus ,Geist, Hauch‘ bzw. spiro , ich atme‘. Es gibt zahlreiche Definitionen wie z. B. aus dem Duden: „Geistigkeit; inneres Leben, geistiges Wesen“. Der Dalai Lama bezeichnet als Grundspiritualität die grundlegenden menschlichen Werte der Güte, der Freundlichkeit, des Mitgefühls und der liebevollen Zuwendung. Deshalb könnte man von einer humanistischen Spiritualität sprechen, die darauf ausgerichtet ist, die Werte des Humanismus zur eigenen Lebenswirklichkeit werden zu lassen.


Der indische Theosoph Nilakanta Sri Ram (†1973) schreibt: „Spirituell sein besteht nicht darin, dass man die Welt verlässt, eine besondere Gewandung anlegt, besondere Zeremonien ausführt oder in irgendeinem konventionellen Sinn religiös ist. Der spirituelle Zustand ist ein Zustand des Bewusstseins und des Wesens, er ist eine Integration von Verstand und Geist.



Und das ist philosophische Spiritualität: die Entwicklung und Pflege des Innenlebens.



So entsteht eine im Alltag gelebte Bewusstheit, dass alle Dinge und Wesen einen geistigen Ursprung haben, mit dem man in Kontakt treten kann. Diese Bewusstheit führt einerseits zu einem achtsamen Umgang mit der Natur als lebendigem Wesen und andererseits zu einer humanistischen Haltung, die von Hans Küng als „Weltethos“ bezeichnet wurde: „Diese eine Welt braucht ein Ethos; diese eine Weltgesellschaft braucht keine Einheitsreligion und Einheitsideologie, wohl aber einige verbindende und verbindliche Normen, Werte, Ideale und Ziele.


Eine spirituelle Lebenshaltung drückt sich durch Achtsamkeit und Bewusstheit aus. Durch tiefe Reflexion und Meditation über sich selbst, die innere Natur der Dinge und den Lauf der Ereignisse nimmt man alles intensivwahr. Man versteht, dass nichts zufällig geschieht, sondern (uns oft unbekannten) Naturgesetzen folgt. So erkennt man die allem innewohnende Sinnhaftigkeit, was zu tiefem inneren Glück führt – denn jenseits aller Schwierigkeiten und Probleme ist man mit dem „Leben an sich“ in Kontakt.


Und wie kann man Spiritualität konkret leben?


Durch geistige Begegnungen und einem Austausch intimster Überlegungen mit anderen Menschen, z. B. in philosophischen Gesprächen und dem gemeinsamen Ringen um Erkenntnis. Hier ist es wichtig, dass wir einander nicht bekämpfen oder überzeugen, sondern die verschiedenen Blickwinkel würdigen – nach dem Motto:



„Jenseits von richtig und falsch existiert ein Ort. Dort begegnen wir uns.“
(Rumi, persischer Mystiker des 13. Jh.)




So bereichern wir einander und erweitern unsere inneren Welten.


Eine andere Möglichkeit sind alte Bräuche. An vielen Orten leben die jahreszeitlichen Feuerbräuche wieder auf wie z. B. zur Sommersonnenwende ein Fackeltanz um einen Feuerstoß, der dann gemeinsam angezündet wird. Oder das gemeinsame Gestalten einer Spirale aus Tannenzweigen mit Kerzen zur Wintersonnenwende, deren Licht dann von innen nach außen wächst.


Manchmal entwickeln sich Rituale ganz spontan. Vor Kurzem erlebte ich dies bei einer Tanzparty: Das Geburtstagskind wurde in die Mitte geleitet, die durch einen Kreis aus brennenden bunten Lichtgläsern gestaltet war. Und ein Freund nach dem anderen tanzte eine Runde mit dem Geburtstagskind, um dann jemand anderen in die Mitte zu holen, der dies fortsetzte. Jeder registrierte ein starkes Gemeinschaftsgefühl und eine gemeinsam empfundene Freude.


Spiritualität erlebt man auch im Kontakt mit heiligen Orten. Dazu sind z. B. Kirchen geeignet, die meist auf alten „heidnischen „ Kultplätzen“ stehen. Es tut gut, dann und wann einzutreten und einige Minuten in Stille zu verweilen. Auch in der Natur gibt es „Kraftorte“, z. B. unter einem Baum, an einer Quelle, bei einem besonderen Felsen, an geomantischen Orten. Feinfühlige Menschen spüren die unterschiedlichen Energien der verschiedenen Plätze. Das Wissen um die Bedeutung von „Kraftorten“ lebt wieder auf. Der Münchner Lehrer Fritz Fenzl hat zu diesem Thema einige interessante Bücher verfasst, z. B. „Münchner Kraftorte“ oder „Magische Kraftorte in Bayern“. Auch wenn ich nicht all seine Aussagen nachvollziehen kann – seine Bücher öffnen die Augen, um Bedeutungsvolles erkennen zu lernen …


Zum Abschluss noch zwei praktische Tipps für Ihre spirituelle Lebenskunst im Alltag:



1) Gestalten Sie zu Hause Ihren „heiligen Ort“
In den östlichen Kulturen ist ein „Hausaltar“ üblich, wenn Sie das nächste Mal in ein asiatisches Restaurant gehen, können Sie sich persönlich davon überzeugen. Der in vielen Bauernhöfen noch vorhandene Herrgottswinkel ist ein heimisches Beispiel. Ein „Hausaltar“ ist ein spiritueller „Anker“, der Sie an die Präsenz des Göttlichen erinnert und Ihnen hilft, Einkehr zu halten und Ihr Bewusstsein zu erheben. Eine Kerze, Räucherstäbchen, ein schöner Stein vom letzten Urlaub, eine Statuette oder Blumen aus Ihrem Garten sind Elemente, die das Heilige verkörpern.


2) Morgen- und Abendmeditation
Zahlreiche Philosophen und spirituelle Lehrer aller Zeiten empfehlen einen morgendlichen und/oder abendlichen Moment der Selbstbesinnung, um im Kontakt mit dem göttlichen Funken zu treten. Da wir oft vom „struggle of life“ gefangen genommen werden, tut es gut, regelmäßig das Bewusstsein zu erheben und sich klarzumachen, dass sich das wahre Selbst in immerwährender heiterer Gelassenheit befindet. Identifizieren wir uns mit ihm, breitet sich Seelenfrieden aus und wir empfinden eine tiefe Verbundenheit mit allem.


Dieser Artikel wurde in der Ausgabe 149, Januar 2017 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht, Autor: Gudrun Gutdeutsch