Schau mich an – dann hör ich dich

Ein Interview mit Gebärdensprache. Ich war recht gespannt auf die Begegnung mit Danny. Ein bisschen nervös vielleicht, ich wollte keine Fehler machen. Aber: Wie interviewt man jemanden, der die Fragen nicht hört?

Interview von Gudrun Gutdeutsch mit Danny, mit Unterstützung von Gebärdendolmetscherin Andrea von Stengel

Die beiden warteten schon vor der Türe, gemeinsam betraten wir die hellen Räume und starteten zu einem kurzen Rundgang. Da lernte ich mein erstes Wort in der Gebärdensprache: Cool! Dannys Gesicht mit der lebhaften Mimik und den hellwachen Augen signalisierte Begeisterung. Aha! Man musste nur genau schauen, dann verstand man.
Schließlich ließen wir uns in der Bibliothek nieder und das Interview begann. Die Fragen hatte ich schriftlich vorbereitet, Danny und Andrea hatten ein Exemplar vor sich.


Wer ist Danny?


Wie alt sie ist, stand auf dem Zettel, welchen Beruf sie ausübt und was sie sonst noch ausmacht. Ihre Antworten „gebärdete“ sie und Andrea übersetzte sie für mich.
43 Jahre. Berufe hat sie zwei: Sachbearbeiterin im Digitalzentrum des deutschen Patentmarkenamts und Dozentin für Gebärdensprache in der Volkshochschule München. Früher war sie auch an der Uni München tätig.



Wodurch wurde Danny gehörlos?


Danny wurde so geboren und konnte niemals hören. Als mögliche Ursachen gelten allgemein: Sauerstoffmangel bei der Geburt, Asthma (das sie schon als Säugling hatte) oder Nebenwirkungen einer Impfung. Ihre Mutter bemerkte es, als sie direkt neben ihr einen Luftballon zerplatzte. Danny war damals drei Monate alt und reagierte überhaupt nicht.
In ihrer Familie hören alle und die Taubheit des Einzelkindes Danny war ein großer Schock für alle. Niemand in ihrer Familie lernte die Gebärdensprache, sondern sie musste auf der Gehörlosenschule Lippenlesen und sprechen lernen, was sehr anstrengend war. Nach Ansicht der damaligen Schulmedizinwürde sie sich so besser in die Gesellschaft integrieren können. Ihre Eltern ärgern sich noch heute, dass sie nicht alle gemeinsam die Gebärdensprache lernten.
Nach einiger Zeit verstehe ich Dannys gepresste Sprache, die sie neben den Gebärden auch benutzt, immer besser. Ihre Laute sind nicht ganz deutlich und man merkt, dass es sie sehr anstrengt. Da sie sich nicht hört, verwendet sie nur einen Teil des Sprechapparats und weiß auch nicht genau, wie sie den Luftstrom dosieren soll.
Dannys Freundeskreis besteht aus Hörenden, Schwerhörigen und Gehörlosen. Ihr „Schatz“ ist hörend, kann die Gebärdensprache und sie haben keine Kinder.
Ihre Hobbys sind basteln, fortgehen, wandern, sich mit Leuten treffen und austauschen. Auch liest sie gerne Biografien. Auf meine Frage, ob sie in anderssprachige Länder reisen kann und wie man als Gehörloser andere Sprachen lernt, lacht sie. Das Reisen in südliche Länder ist überhaupt kein Problem, weil dort alle mit Händen und Füßen sprechen!
Nach dieser Vorstellung von Danny kamen wir zu den Fragen:


Wie funktioniert ihre Kommunikation? Welche Unterschiede zur Kommunikation der Hörenden gibt es?
Es gibt einen großen Unterschied zwischen den Kulturen der Gehörlosen und Hörenden: Gehörlose sind viel direkter als Hörende, weil diese mit ihrem größeren Wortschatz Bedeutungsnuancen besser ausdrücken können und deswegen „diplomatischer“ sind. Danny meint, Gehörlose sind offener und geselliger als Hörende. Außerdem sind Gehörlose eine Minderheit mit all den Problemen, die dies mit sich bringt: Ausgrenzung, Unverständnis, ungewollte Aufmerksamkeit, Spott und vor allem: das Vorurteil, nicht nur „taubstumm“, sondern auch „dumm“ zu sein – nur weil ein Sinn fehlt!


Welcher Sinn ersetzt das Gehör?
Der Gesichtssinn. Gehörlose sind stark visuell ausgerichtet, sie sehen die Gefühlsnuancen, „hören mit den Augen.“ Danny kann Menschen „durchschauen“. Das ist ihre besondere Stärke.



Und das stimmt! Als wir am Ende des Gesprächs noch gemeinsam auf die Straße hinunterblicken und plaudern und ich schon im Geiste bei meinem nächsten Termin bin, signalisiert sie plötzlich vehement, dass sie jetzt gehen will. Schuldbewusst merke ich, dass sie tatsächlich Gedanken lesen kann. So schnell bemerken Hörende so etwas bei mir nicht …


Wie merkt sie, dass Gefahr droht? Hörende nehmen Sirenen oder Warnrufe wahr.
Danny lacht. Es kommt auf die Situation an, sie beobachtet immer sehr genau, was die anderen tun. Z.B. wenn sie beim Autofahren sieht, dass die anderen Autos rechts ran fahren, macht sie das nach und sieht dann die Rettung vorbeibrausen. Bei Feueralarm haben ihre Kollegen die Pflicht, sie zu verständigen. Und außerdem kann sie die Angst ihrer Mitmenschen im Gesicht lesen.


Wie kommen Gehörlose in der Gesellschaft zurecht?
Da sie eine Kommunikationsbehinderung haben, ist es schwierig, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Viele Gehörlose bemühen sich, mit Hörenden in Kontakt zu treten. Doch sie werden oft zurückgewiesen, weil sie sich ungewöhnlich benehmen, eine exaltierte Körpersprache benützen (z.B. aufstampfen, jemanden schubsen) und oft mit seltsam verzerrter Stimme sprechen.
Danny ist mit hörenden Eltern aufgewachsen, beherrscht das Sprechen und Lippenlesen und kann deshalb gut mit Hörenden in Kontakt treten. Gehörlose Familien haben es schwerer. Die Kinder besuchen die Gehörlosenschule und bekommen dann oft einen Schock, wenn sie mit der Schule fertig sind und in die „normale Welt“ eintreten müssen.
Gehörlose können sehr laute und unangenehme Nachbarn sein, weil sie z.B. Küchenschränke lautstark öffnen und schließen, stampfen und trampeln und mit den Türen knallen, da sie über keine akustische Selbstkontrolle verfügen. Da wünschen sich die Gehörlosen Verständnis, dass man sie kontaktiert und die Probleme klärt.



Welche Berufe sind geeignet für Gehörlose?
Es gibt viele Berufe für Gehörlose. Z.B. Handwerke sind kein Problem. Gut geeignet sind: Programmierer, technischer Zeichner etc. Alle Jobs, in denen man nicht so viel kommunizieren muss. Jedoch gibt es in Österreich sogar eine gehörlose Politikerin, nämlich Helene Jarmer.


Was stresst sie, was entspannt sie? Hörende sehnen sich nach Ruhe. Kann sie sich Stille vorstellen?
In ihr ist es immer absolut still, das können Hörende nicht nachempfinden. Sie lebt wie in einer akustischen Nacht. Sie kennt es nicht anders. Wenn es absolut still ist, können Hörende immer noch ihr Herz schlagen und ihren Atem hören. Für Danny hingegen ist es immer absolut still. Sie fühlt ihr Herz und ihren Atem nur.
Für Hörende ist Lärm anstrengend, für Gehörlose, wenn Hörende zu schnell oder zu viele auf einmal sprechen (weil man gleichzeitig viele Gebärden sehen muss). Oder wenn sie sich erschreckt, das ist anstrengend. Denn Gehörlose hören nicht, wenn Menschen kommen, Tiere sich annähern, der Wind sich erhebt. Plötzlich steht jemand da – ohne dass Schritte zu hören waren oder es springt einem eine Katze auf den Schoß.
Entspannend ist es, wenn Hörende die Gebärdensprache benützen. Für alle Gehörlose ist das wie eine Brücke zu den Hörenden.


Wie denken Gehörlose? Hörende tun dies oft in Worten
Sie denken in Bildern.  Sie schließt die Augen …



  • Welche Bilder sieht sie zum Sinn des Lebens? Viele bunte Visionen … Und es gibt einen Sinn, warum ich taub bin. Weil ich etwas lernen muss … Denn manchmal würde sie gerne musizieren, Klavier oder Gitarre spielen. Oder ins Theater, in die Oper gehen …

  • Welches Bild sieht sie, wenn ich Gott sage? Einen schönen Mann, weiß, geschlechtslos. Oder Superman oder einen einfachen, bescheidenen Mann.


Manchmal führt sie Selbstgespräche vor dem Spiegel in der Gebärdensprache.


Wenn sie sich von den Hörenden was wünschen dürfte, was wäre das?
Dass die Hörenden die Gebärdensprache lernen.


Dass sie sich im Geschäft, beim Arzt, im Lokal so unterhalten kann. Denn Sprechen ist für sie sehr anstrengend, sie bekommt Halsweh, wird heiser.
Und außerdem – jetzt wir Dannys Körpersprache sehr entschieden und emotional, ihre Laute klingen heftig – die Hörenden sollen verstehen: Nur weil wir nichts hören und nicht richtig sprechen, sind wir nicht dumm!
Sie verabschiedeten sich und ließen mich nachdenklich zurück. Wie anders gestalten sich die Wahrnehmung der Welt und die Kommunikation, wenn man nicht hört. Und wie anders lernt man denken, wenn man keine Worte hat!
Für mich war das Gespräch eine Bereicherung – ich hatte Gelegenheit in eine „Parallelwelt“ mit ihren Werten und einer eigenen Kultur hineinzuschnuppern. Und ich dachte daran, wie viele verschiedene Menschengruppen mitten in unserer Gesellschaft leben: Gehörlose, Blinde, Rollstuhlfahrer, Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen in ihren „Communities“ in den Großstädten … Die Herausforderung besteht darin, den Blick auf das zu richten, was uns verbindet und nicht auf das Trennende. Und da gibt es genug: Jeder Mensch möchte glücklich sein, sucht gute Beziehungen, möchte sich selbst entfalten, Erfüllung finden … Und um das zu erreichen, haben wir unterschiedliche Herausforderungen zu bewältigen. Schwierigkeiten, Schicksalsschläge, Beeinträchtigungen (das korrekte Wort für „Behinderung“) … Wie Danny gesagt hat: um etwas zu lernen. Das Leben in seinen unterschiedlichsten Facetten ist ein „Trainingslager“. Und jeder hat seine ganz individuellen Lektionen.


Dieser Artikel wurde in der Ausgabe 139, Januar 2015 des Magazins Abenteuer Philosophie veröffentlicht